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Gut schreiben 7 - Autobiographisches Schreiben

Woher kommt der Autobiographie-Boom…

…und was bedeutet er? - Ein kurzer Essay zu einem großen Thema

 

Oliver A. Mohr

 

Der Lebenslauf als Eigentum, als individuelles Projekt, als ganz eigener Lebensentwurf, als „Singularität“ (Andreas Reckwitz). Das Bedürfnis vieler geht heute darüber hinaus, ihr Leben zu „leben“, was vielleicht damit zusammenhängt, dass unsere Zeit „schnelllebig“ geworden ist. Singulär zu sein und zu leben heißt auch, Autor des eigenen Lebens zu sein. Und zwar in zweifacher Bedeutung: dass man über sein Leben bestimmt, und dass man der Schöpfer seiner Lebensgeschichte ist, außerdem selbst das Narrativ seiner Lebensgeschichte liefert, es aufschreibt oder aufschreiben lässt. Es reicht nicht mehr die Erfüllung des Lebens, vielmehr wird diese Erfüllung erst durch ihre Narration vollendet.

 

Daher sind Lektoren, Buchmentoren und Ghostwriter gefragt, die es verstehen, Menschen dabei zu unterstützen, die Geschichte ihres Lebens zu schreiben. Hierbei geht es selten darum, den eigenen Lebenslauf zu beschönigen, im Gegenteil: Oft ist die eigene Lebenserzählung schonungslos offen und auch Intimstes wird nicht ausgeklammert. Das Bedürfnis nach Authentizität ist wichtiger als der Wunsch, eine gute Figur zu machen.

Jedoch ist eine Autobiographie weit mehr als ein Korpus autobiographischer Aufzeichnungen. Dies wird Menschen bewusst, wenn sie versuchen, Erinnerungsstücke, persönliche Notizen, Selbstzeugnisse und Quellen zu einer kohärenten Erzählung zu verdichten. Was kinderleicht erschien, war man doch selbst im wahrsten Sinne „dabei“, wird für viele zu einer unlösbaren Aufgabe. Und wie vielleicht das tatsächliche Leben bleibt dann auch seine Erzählung Fragment.

 

Zu ihrer Entstehungszeit veranschaulichten die Lebensgeschichten bestimmte Werte. Das Verhalten der Biographierten stand exemplarisch mal im Einklang mit diesen Werten, mal im Konflikt, mehr oder weniger. In diesem Sinne besaß die Biographie Allgemeingültigkeit. Seit der Frühen Neuzeit entschieden sich Menschen vermehrt dafür, ihr eigenes Leben zu erzählen, je nach dem als Erfolgsgeschichte oder als Apologie. Die Bedeutung des Allgemeinen trat zurück, die Besonderheit des Individuums wurde wichtiger.

 

Der heutige Boom der Autobiographie stellt eine weitere Zäsur dar. Das eigene Leben erscheint als erzählenswert, nicht weil es allgemeingültig, sondern weil es singulär ist. Thematisiert werden nicht moralische Qualitäten, sondern Authentizität. Gerade die Singularität von Lebensläufen könnte Grund dafür sein, dass “normale” Menschen das Bedürfnis haben, ihr Leben in einem Buch zu erzählen. Wie kann sich Leben in einer “Gesellschaft der Singularitäten” erfüllen? Für die meisten wohl kaum mehr darin, dass sie sich in Gottes Hand begeben, wie in Gesellschaften, in denen Religionen noch verbindliche Werte vorgaben.

 

Das Exemplarische, die Allgemeingültigkeit, der moralische Kontext treten in den Hintergrund. Um so weniger diese tradierten Elemente der Biographik eine Rolle spielen, desto mehr rückt das schreiberische Können des Selbst-Biographierenden in den Vordergrund. Doch wenn dieses nicht hinreicht, muss er oder sie - und das ist die Paradoxie des Autobiographie-Booms - auf die erwähnten Lektoren, Buchmentoren und Ghostwriter zurückgreifen - sich also der Hilfe von experten zu bedienen, um dem Wunsch nach Authentizität Ausdruck verleihen zu können.

Einer, der es besonders verstand, autobiographisch zu schreiben, war Goethe. In seinem autobiographischen Werk  “Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit” schilderte er, geboren 1749, Jahrzehnte später die Erlebnisse des Kindes, Jünglings und jungen Mannes bis 1775, also lediglich einen Lebensabschnitt von gut 25 Jahren. Welch eine schriftstellerische Souveränität, Lebenserinnerungen zu schreiben, die enden, als sich die ersten literarischen Erfolge einstellten.

 

Von herausragender literarischer Qualität ist das fünfte Buch im ersten Teil, in dem Goethe die Wahl und Krönung Josephs II. zum Römischen König schilderte. Im März und April 1764 wurde der Verfasser Zeuge des mehrtägigen Zeremoniells in seiner Vaterstadt Frankfurt. Damals war er 14 Jahre alt, bei der Niederschrift stand Goethe am Anfang seines siebten Lebensjahrzehnts. Einer seiner Kunstgriffe bestand darin, den Vierzehnjährigen aus der Entfernung als eigenständige Person zu betrachten. Goethe beobachtete sein zeitlich distanziertes Ich, wie es die prunkvollen Feierlichkeiten staunend erlebte und schaute ihm hierbei über den Rücken. Auf diese Weise verschmolz er die Horizonte des Knaben mit derjenigen des gealterten Mannes und schuf eine neue Gegenwart. Goethes Autobiographie geht so über Memoirenliteratur hinaus - sie stellt eine eigenständige Gattung dar, die nicht nur Vergangenes aus der Erinnerung hervorholen, sondern Vergangenheit und Gegenwart zu etwas Neuem verbindet.       

 

      

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